An den Bundespräsidenten, die Bundesregierung, den Nationalrat und die Bevölkerung Österreichs
Wir, die Unterzeichner:innen dieses zweiten offenen Briefs zur sicherheitspolitischen Lage Österreichs, müssen mit Besorgnis und Bedauern feststellen:
Erstens: Keine der oben genannten Adressaten hat unsere Forderung nach einer ergebnisoffenen Diskussion österreichischer Sicherheitspolitik ernsthaft in Betracht gezogen.
Zweitens: Trotz der dramatischen Rückkehr des Krieges in Europa sind weite Teile der heimischen Politik und Gesellschaft der Illusion verfallen, Österreich könne so bleiben wie es ist, sich heraushalten, und mit etwas mehr Geld für das Bundesheer das Auslangen finden.
Drittens: Die wichtigen Fragen zur Zukunft Österreichs, Europas und der internationalen Ordnung werden vernachlässigt; vor allem die Frage, welche pragmatischen Schritte unser Land besser schützen können.
Seit unserem ersten offenen Brief vom 8. Mai 2022 veränderte sich die Lage in Europa rasch weiter. Unsere ehemals neutralen, beziehungsweise bündnisfreien Freunde Schweden und Finnland treten der NATO bei.Dänemark beendete sein Abseitsstehen von der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU. Unsere gegenüber Russland früher ähnlich vorsichtigen Nachbarn, Deutschland und Tschechien, schicken Waffen im Wert mehrerer Milliarden Euro in die Ukraine. Währenddessen verübt Russland täglich neue Kriegsverbrechen an der ukrainischen Zivilbevölkerung.
Zur gleichen Zeit tut Österreich so, als wäre die Welt am 23. Februar 2022 stehengeblieben. Unsere verfassungsrechtlichen Grundlagen und Sicherheitsdoktrinen sind noch immer anachronistisch. Unser Bundesheer noch immer unvorbereitet, die Heimat ernsthaft zu verteidigen und anderen EU-Staaten wie eigentlich versprochen beizustehen. Unsere Nachrichtendienste noch immer nicht ausreichend ausgestattet und von relevanten Informationen abgeschnitten. Unsere sicherheitspolitische Position wird international von den Einen belächelt, von den Anderen als rückgratlos wahrgenommen.
Viele Österreicher:innen scheinen immer noch zu glauben oder zu hoffen, dass sich für unser Land eigentlich nichts geändert hat, dass wir uns aus allen militärischen Konflikten heraushalten und uns in absehbarer Zeit selbstständig schützen können, dass alleine schon eine friedliche Außenpolitik unsere Sicherheit garantiert, und dass unsere aktive Mitwirkung an der Stabilisierung Europas nicht erforderlich ist. Diese Vorstellungen sind Ausdruck eines Widerspruchs zwischen österreichischer und weltweiter Realität. Sie sind für Österreich wie auch für Europa gefährlich und unseres selbstbewussten und souveränen Landes unwürdig.
Wir müssten uns schon längst die wichtigen Fragen stellen: Wie kann Europa einer besseren regionalen und globalen Sicherheitsarchitektur zur Realität verhelfen? Wie kann die europäische Verteidigung im Falle des Rückzugs der USA als Schutzmacht gewährleistet werden? Wie wollen wir mit Desinformation, Agitation, und einem weltweiten Bündnis aus Illiberalen und Antidemokraten, bezahlten Opportunisten und naiven Influencern umgehen? Und am wichtigsten: Was können wir jetzt an pragmatischen Schritten unternehmen, um unser Land besser zu schützen?
Wir, die Unterzeichner:innen dieses Briefes, fordern die politischen Führungspersönlichkeiten unseres Landes erneut auf, ihre staatspolitischen Aufgaben wahrzunehmen, diese unangenehmen Fragen endlich ernst zu nehmen und vor die eigenen politischen Kalküle zu setzen. Wir fordern unsere Mitbürger:innen erneut auf, sich mit den für unser Land so wichtigen Fragen auseinanderzusetzen und sich darüber mit anderen auszutauschen.
Die kürzlich beschlossene Budgeterhöhung des Bundesheeres löst keine der oben erwähnten strategischen Fragen. Österreich verdient die Wahrheit: Der jetzige Zustand ist unhaltbar und gefährlich. Wir bestehen deswegen weiterhin auf unseren Minimalforderungen: eine ernsthafte, gesamtstaatliche, ergebnisoffene Diskussion über die außen-, sicherheits- und verteidigungspolitische Zukunft Österreichs sowie die Verabschiedung einer neuen Sicherheitsdoktrin, die den geänderten Umständen Rechnung trägt. Nur dies kann den Schutz, Handlungsspielraum und die weitere Souveränität Österreichs gewährleisten.
We, the signatories of this second open letter on Austria's security policy situation, have to state with concern and regret:
First: None of the above addressees has seriously considered our demand for an open discussion of Austrian security policy.
Secondly: Despite the dramatic return of war in Europe, large sections of domestic politics and society have fallen prey to the illusion that Austria can remain as it is, stay out of conflicts, and make do with a little more money for the armed forces.
Third: the important questions about the future of Austria, Europe and the international order are being neglected; above all, the question of what pragmatic steps can better protect our country.
Since our first open letter on May 8, 2022, the situation in Europe continued to change rapidly. Our formerly neutral, respectively non-aligned friends Sweden and Finland joined NATO. Denmark ended its opt-out of the EU's Common Security and Defense Policy. Our neighbors Germany and the Czech Republic, who used to be similarly cautious toward Russia, are sending billions of euros worth of weapons to Ukraine. Meanwhile, Russia is committing new war crimes against Ukrainian civilians on a daily basis.
At the same time, Austria acts as if the world had stopped on February 23, 2022. Our constitutional foundations and security doctrines are still anachronistic. Our armed forces are still unprepared to defend the homeland and to assist other EU states as promised. Our intelligence services are still under-equipped and cut off from relevant information. Our security position is internationally ridiculed by some, and perceived as spineless by others.
Many Austrians still seem to believe or hope that nothing has really changed for our country, that we can stay out of all military conflicts and protect ourselves independently in the foreseeable future, that a peaceful foreign policy alone guarantees our security, and that our active participation in the stabilization of Europe is not necessary. These ideas are an expression of a contradiction between Austrian and global reality. They are dangerous for Austria as well as for Europe and unworthy of our self-confident and sovereign country.
We should have been asking ourselves the important questions long ago: How can Europe help to achieve a better regional and global security architecture? How can European defense be guaranteed in the event of the withdrawal of the USA as a protective power? How do we want to deal with disinformation, agitation, and a global alliance of illiberals and anti-democrats, paid opportunists and naive influencers? And most importantly, what pragmatic steps can we take now to better protect our country?
We, the signatories of this letter, once again call on the political leaders of our country to fulfil their responsibility, to finally take these unpleasant questions seriously and to put them above narrow political considerations. We once again call on our fellow citizens to deal with the issues that are so important for our country and to discuss them with others.
The recently increased budget of the Austrian Armed Forces does not solve any of the strategic questions mentioned above. Austria deserves the truth: the current state of affairs is unsustainable and dangerous. We therefore continue to insist on our minimum demands: a serious, inclusive, open-ended discussion on Austria's foreign, security and defense policy future and the adoption of a new security doctrine that takes account of the changed circumstances. Only this can guarantee Austria's protection, room for maneuver and continued sovereignty.